Alf Rolla - Der Krimimacher

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"Ich hab bei den Göttern noch einen gut"
Ein Schriftsteller ohne rechten Erfolg tut schon seltsame Dinge, um an Stoff für einen neuen Roman zu kommen: Erst kriegt er einen Herzinfarkt, dann fährt der bekennende Betablocker zur Kur in die Pampa nach Bad Hermannsborn
Sie haben bald Urlaub und wissen noch nicht, was Sie machen sollen? Die Wohnung neu tapezieren, im Garten einen Teich anlegen oder eine Städtetour nach Köflach unternehmen? Können Sie natürlich alles tun. Klar. Mein Tipp: Machen Sie doch mal ganz was Verrücktes - fahren Sie zur Kur nach Ostwestfalen, genauer gesagt: Nach Bad Hermannsborn.

Denn so eine Kur ist ein richtiger Abenteuerurlaub. Abenteuerurlaub... was sage ich: Meine Kur in der kosmopolitischen Metropole war eine regelrechte Berg- und Talfahrt. Einmal – und zum Glück nur einmal – wurde sie sogar zu einem Angsttraum. Es war, wenn man so will, verehrte Leserinnen und verehrte Leser,
ein richtiger A-L-B-T-R-A-U-M.

Dieser Albtraum begann an einem Sonntag im Januar kurz nach dem Frühstück – nein, nach dem Mittagessen. Ich, um gleich zum Thema zu kommen, saß an meinem Lieblingsplatz in der Cafeteria, die früher einmal der Speisesaal der Klinik gewesen war. Hier vorne am Eingang hatte ich alles im Blick und konnte Ausschau nach Fremden halten, die mir eine Reise in ihre Seele erlauben würden. Ich blickte also in die Runde und hielt dabei meine Cappuccino-Tasse in der Hand. Der Cappuccino war sicherlich nicht auf die Bedürfnisse der Patienten eines ostwestfälischen Herztransplationszentrums abgestimmt. Danke. Es war übrigens der dritte Cappuccino. Was ist das Leben ohne Laster? Außerdem war ich der Meinung, wenn man schon mal zur Kur nach Bad Hermannsborn fährt, darf man nicht kleinlich sein. Wer kleinlich sein will, sollte gefälligst zu Hause bleiben und nicht krank werden und nach Bad Hermannsborn zur Kur fahren. Ist doch wahr...

Ich saß also in der Cafeteria, die früher einmal der Speisesaal der Klinik gewesen war, trank meinen dritten Cappuccino und kriegte was auf die Ohren: Angel von Felicity Burski. Es tat gut, wieder in einem Café zu sitzen! Und so beobachtete ich – nicht ohne Grund, wie sie wissen - die Leute, die, meist in kleinen Gruppen, an mir vorbeischlurften. Alle beherrschten ihr Spiel, was Wunder, aus dem Effeff: sorgenvoll gucken und ab und zu ein bisschen über Unterbringung, Pflege oder Essen jammern. Allzu gerne hätte ich ihre Köpfe aufgeklappt und selbst nachgesehen, ob sie wirklich nichts Interessantes mit sich herumschleppten, was das Sprungbrett zu meiner eigenen schöpferischen Fantasie hätte werden können. Aber ich konnte nichts entdecken. A propos, ein Patient, der nicht über Unterbringung, Pflege oder Essen jammerte, galt bei den anderen als Idiot oder Vollidiot. Ein Stöpsel rutschte mir aus dem Ohr, und sofort hörte ich Sachen wie Diabetes mellitus, Diarrhoe, Tinea pedum. Natürlich darf man nicht gleich alle Leute verteufeln, die über Diabetes mellitus, Diarrhoe, Tinea pedum reden, klar, aber den Kopf schütteln, bitte schön, das darf man doch, oder? So oder so: Ich war nicht nur außer Stande, den Schwall von Worten zu verdauen, die mir nur so um die Ohren flogen, sondern, was noch schlimmer war, ich wusste gar nicht, worum es überhaupt ging. Anders gesagt, die Voraussetzungen für ein gepflegtes Gespräch nach Tisch waren einfach nicht gegeben. Ja, so etwas kommt schon mal vor. Irgendwie nett.

Um nicht noch eine Baustelle aufzureißen, dachte ich mir eine Antwort auf die Frage aus, die mir immer wieder am Telefon von Freunden und Bekannten (aber nie von meiner Mutter) gestellt wurde: „Na, hast du schon einen Kurschatten gefunden?“ Künftig würde ich antworten: „Sehe ich etwa aus wie einer mit einem Ödipuskomplex? Gott behüte.“ Aber man weiß ja nie! Vorhin in meinem Zimmer hatte ich ein neues Rasierwasser ausprobiert und dabei lange in den Spiegel geschaut. Die Ähnlichkeit mit Hugh Grant in Notting Hill war doch verblüffend, stellte ich fest. Hugh Grant? ... Na ja, vielleicht doch eher Bruce Willis in Das Mercury Puzzle. Schon wegen der Frisur. Und überhaupt.

Zu den Beiden gehörte ein etwa siebenjähriger Junge, der mich schon seit einer geschlagenen Viertelstunde nicht aus den Augen ließ. Dabei starrte er mich an, als hätte ich, sagen wir mal, Fußpilz, Akne und Syphilis zusammen. Wahnsinn, nicht? Na ja, Syphilis nicht gerade, weil der noch nicht pubertierende Schüler diese Krankheit bestimmt nicht kannte.

Schwindelig von den Anstrengungen, dem Blick des Jungen auszuweichen, guckte ich nun direkt in seine Richtung. Sofort schaute er weg, und der gar nicht so schwache Schimmer einer Hoffnung keimte auf. Ich sah genau hin: Der Junge kritzelte Dreiecke und Spiralen auf einen Notizblock. Gott sei Dank, sagte ich in Gedanken, endlich ist es vorbei.

Denkste! Nichts war vorbei – nach wenigen Sekunden ging der Albtraum weiter, und meine Eingeweide schalteten auf Stufe Rot. Der Junge schob seinen Block weg, musterte mich wieder prüfend, und sofort schrumpfte ich wieder unter seinem Blick zusammen. Jetzt wurde mir die ganze Sache doch zu dumm. Ich ballte meine Hand so fest zu einer Faust, dass die Knöchel ganz weiß wurden. und atmete ganz bewusst noch dreimal ein und wieder aus. Ich musste handeln, war mir klar. Schließlich war ich ein Gast der Klinik, ein Patient, im Grunde genommen ein Schwerkranker ... Hmmh ... Immer schön locker bleiben im blauen Jogginganzug, sagte ich mir und erwiderte seinen Blick: „Hey, Kleiner.“ Der Junge warf mir einen Blick zu, aus dem klar hervorging, dass er diese Anrede nicht eben in seinem Nachtgebet erflehte. Da war mir klar, nicht das Richtige gesagt zu haben. Also räusperte ich mich und fühlte mich der Coolness nach alter Väter Sitte verpflichtet: „Hey, was liegt an?“

Er maß mich kurz mit einem spöttischen Blick, aber das war auch schon alles. Dann schaute er gelangweilt zur Decke. Um die Wahrheit zu sagen: Dieses scheinbare Desinteresse war eine Unverschämtheit mir gegenüber. Himmelherrgott noch mal. „Was liegt an?“, wiederholte ich mit Nachdruck und es glückte mir sogar, meiner Stimme einen Unterton von Arroganz beizumischen. Wieder vergingen endlose Sekunden, aus meinen Ohrstöpseln quoll längst Nenas Jammer nicht hinaus. Ich zeigte der Bedienung, die gerade an meinem Tisch vorbeiging, meine leere Tasse. Ein Cappuccino, ja, das war genau das, was ich brauchte, und es war genau das, was ich bestellte.

Schließlich lachte, grinste, schmunzelte der Junge, und alles auf einmal. Dann schaute er mich direkt an. „Opa“, begann er schließlich und löste bei meinem Selbstbewusstsein einen Supergau aus, „weißt du was?“

Ich hatte ein seelisches Trauma erlitten, klar, aber ich musste mir einhämmern, nicht auf den Opa einzugehen. „Weiß ich nicht“, gab ich zu. Vermutlich war es genau das, was er hören wollte.

Der Junge strahlte mich an: „Mein Opa hat aber ein viel schöneres Horchgerät als du.“

Ich sagte kein Wort, sah den Bengel nur ernst an. Aber irgendwo ganz weit hinten in meinem Kopf murmelte eine schwache, ferne Stimme ein paar Worte,

die die Zensur gestrichen hat.