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Mannsein ist kein Zuckerschlecken mehr - findet ein Egoist und Macho, wie er im Buche steht. Ungewollt klärt er die Hintergründe eines Attentats von Terroristen auf ... und wird ein völlig anderer Mensch.
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"Erde an Oliver: Stimmt was nicht?" sagte ich süffisant
zwischen ausgiebigem Gähnen und schob ein Lächeln nach.
"Was?" fuhr er zusammen, während Eric Burdon im Lautsprecher seine von Whiskey
verrottete Stimme zu einem Lied zwang, das sonst keiner von ihm hören will:
"River Deep, Mountain High".
Draußen ging die Sonne unter, als hätte sie es endgültig satt, Köln mit Wärme zu
versorgen. Drinnen kroch die Zeit dahin wie eine Schnecke. Hin und wieder
lächelte ich und wollte so ausschauen, als sei ich die Ruhe selbst.
Doch genau das Gegenteil war der Fall. Und ich wußte nicht den Grund.
Aber Gefühle sind zu kostbar, um sie jedem zu zeigen. Meine Devise war,
möglichst nie preiszugeben, was in mir ablief. Wenn du nur eine kleine Schwäche
zugibst, wird man dich treten.
Ich saß auf der etwas unbequemen flaschengrünen Sofaliege, und meine Gedanken
beschäftigten sich plötzlich mit dem leisen Grollen eines dahinkriechenden
Gewitters. Doch davon wurde ich noch unruhiger, obwohl ich schon paffte, was die
Lunge aushielt. Schließlich tastete ich mit den Augen meine Kleidung ab: Ich
trug eine khakifarbene Leinenbundfaltenhose, eine schwarze Lederweste ohne Hemd
darunter, so daß mein schwarzes Brusthaar hervorlugte. Meine Springerstiefel
waren bis zur halben Wade hochgeschnürt.
Oliver dagegen war nicht der Bringer. Er klang müde - nicht eben erschöpft, aber
wie jemand, der ständig gegen den Wind anrennt. Und so gelang es mir heute
nicht, mich in seiner Gegenwart wohlzufühlen. Ob es an seinem Auftreten lag? Ich
checkte ihn mit einem Laserstrahl: Seine Haare waren länger geworden und ich
fand, daß ihm die neue Frisur nicht stand. Wie auch seine Kleidung. Es waren
Plürren eines Nachtwächters. Oliver steckte allen Ernstes in einem sackartigen
blau-weiß-rot-gestreiften Sweater und einer ausgebeulten blauen Cordhose. Seine
braunen Ledermokassins hatten auch schon bessere Tage erlebt. Ich tat so, als
würde ich nichts merken. Stattdessen hielt ich Auschau nach einem Drink - obwohl
keine Frau in der Nähe war.
Ich, Ronny Berghagen, Aktivposten aus Köln, war sonst überzeugt davon, daß es
meine Anziehungskraft auf Frauen noch verstärkt, wenn ich etwas getrunken hatte
- und in mancher Nacht war ich so anziehend, daß ich stundenlang durch das
"Quartier Latäng" zog. Ich liebte das Kölner Kneipenviertel wie eine Rakete ihre
Startrampe. Manche Mülltonnen am Straßenrand kippte ich um, und manchem
vorbeifahrenden Wagen brüllte ich etwas hinterher. Keiner der Fahrer hat
übrigens angehalten. Vielleicht wollte er sich nicht bei einem Kieferchirurgen
einen Termin geben lassen ... Vielleicht sah er in mir auch den großen,
übermütigen Jungen - vermute ich heute. Mein Lebensziel war, ein dickes Vermögen
zu machen, und ich hatte eine Schwäche für langbeinige Fotomodelle mit blonden
Haaren und großem Busen. Es sollte eben immer das Beste sein, denn wenn man das
Beste hat, weiß man auch, daß man gut ist.
So einfach war das.
Mein eigentlicher Vorname Roland hatte schon im zarten Kindergartenalter von
drei Jahren der volkstümlicheren Version weichen müssen. Mit meinen 38 Jahren
war ich heute bereits das, was man mit einem nachsichtigen Lächeln einen
"eingefleischten Junggesellen" bezeichnete, auch wenn mir wohlmeinende Leute
gerne von einem "begehrten Junggesellen" sprachen. Anmutig oder sogar zierlich
konnten nicht einmal sie mich nennen. Mit 1,66 Meter war ich leider knapp am
Gardemaß vorbeigeschrammt, ich wog gut und gerne hundertfünfzig Pfund und wegen
meiner etwas tapsigen Art gaben mir die Leute den Spitznamen "Bär", der für
Nicht-Riesen einigermaßen selten ist. Manche Leute starrten mich regelrecht an,
leicht verwirrt, als bemühten sie sich, meinen Namen zu finden. Vielleicht
starrten sie auch mein Äußeres an. Es war mir zur Gewohnheit geworden, meine
braunen Haare ganz kurz schneiden und dann auswachen zu lassen. So brauchte ich
mich monatelang nicht um Friseure zu kümmern.
In meiner Vergangenheit gab es kein einziges Wesen, das mich hätte lehren
können, offen meine Gefühle zu zeigen. Mein Vater begrüßte mich noch heute mit
einer handfesten Geste - einem Handschlag. Nie stellte ich mir die Frage, warum
wir das taten. Als meine Schwester bei einem Verkehrsunfall starb, nahm meine
Mutter die bittere Nachricht wortlos entgegen. Sie preßte nur die Lippen
aufeinander und lief in die Küche, damit niemand den Ausdruck ihrer Augen sehen
konnte. Ab sofort erwähnte sie nie wieder den Namen ihrer Tochter, wie auch mein
Vater nicht mehr von ihr sprach.
Oliver Roberts war mein einziger, wirklicher Freund, soweit man bei mir
überhaupt in solchen Dimensionen sprechen konnte. Sicher, schon von Berufs wegen
gehörte er einer anderen Generation an - wie mein Vater, der in seinem
Stammlokal, dem "Kroatien Grill", noch heute die Rechnung genau checkte, bevor
er sie beglich. Aber gleichzeitig war Oliver auch so, wie ich gerne hätte sein
wollen: Er strahlte Macht aus und niemals wäre jemand auf die Idee gekommen, ihn
für eine Lusche zu halten. Außerdem war er im Zeitalter der absoluten
Angepaßtheit regelrecht ein Antityp. Er raucht (im Büro) Kette, machte sich über
den Fitneßfimmel seiner Kollegen gerne lustig und konnte mit vegetarischen
Speisen überhaupt nichts anfangen. Oliver wirkte wie eine 200 Jahre alte Eiche,
die man knapp unter der 190-cm-Marke abgesägt hatte. Er hatte ein starkes Kreuz
und starke Arme und Beine. An seinem ganzen Körper war keine Fettschicht, und
seine Muskeln kündeten von der Kraft, die in ihnen steckten. Dazu ein ziemlich
schmales Gesicht mit sehr stark hervortretenden Backenknochen, ein fast
zierlicher Mund, für einen Mann etwas zu volle Lippen, ziemlich weit
auseinanderstehenden blauen Augen und eine winzige Narbe auf der Stirn. Oliver
wurde von Nimbus des Chefs eines Fitneßstudios umflort. Er war 30 an seinen
guten, bestimmt 50 an seinen schlechten Tagen. In Wirklichkeit genau 36 und als
Bulle eine Klasse für sich. Aber es schien Oliver nicht darauf anzukommen, aus
seinen Erfolgen Kapital zu schlagen. Manchmal saß er an sieben Tagen in der
Woche an seinem Schreibtisch. Er war ein Einzelkämpfer. Dementsprechend war es
ihm schwer beizubringen gewesen, daß die Kölner Polizei außer ihm noch ein paar
andere Leute beschäftigte. Eine richtige Karriere hatte er nie gemacht. Oliver
ging in seinem Job sehr eigenwillig vor, was immer wieder zu Spannungen führte.
Der Haken war stets, daß er Befehle grundsätzlich als Bitten betrachtete, denen
er nicht unbedingt nachkommen mußte. Außerdem zog er es vor, zu oft auf eigene
Faust zu handeln, und weder das eine noch das andere war eine Empfehlung für
ständige Beförderungen im öffentlichen Dienst. Da half es auch nicht, daß er
sich in seiner Freizeit um die "IPA" kümmerte, einem Verein von Bullen aus allen
Herren Länder. Das war auch seine einzige Freizeitbeschäftigung. Er hatte es mir
mal so erklärt, daß ein Job und ein Hobby sich leicht ins Gehege kommen können.
Diesen Streß bräuchte er nicht, da litt er schon lieber unter Arbeitswut, der
Junggeselle mit monatlich 3800 Mark auf der Waage. Oliver war mit einer Freundin
namens Birke geschlagen, sie war die einzige Schwäche, die er sich leistete. Ich
mochte Birke nicht besonders, kriegte bei ihrem Anlick noch nicht einmal ein
Jucken in der Hose. Aber was ich für sie oder gegen sie empfand, verbarg ich
natürlich. Wie dem auch sei, Birke spielte keinesfalls in meiner Liga. Vielmehr
war sie das, was man so eine Emanze nennt. Sie hatte einfach Glück gehabt, hatte
die Fünfundzwanzig erreicht, ohne schwanger geworden zu sein. Dabei konnte ich
mir gut vorstellen, daß ihre Treue nicht von der Sorte war, die Dichter gerne in
Reimform beschreiben - eher in billigen Schlagertexten. Sie erschien mir immer
fremd auf dieser Welt und war ein Härtetest für jeden Mann. Bestimmt lag das an
ihrem Studium: Psychologie. Ich hielt schon grundsätzlich nichts von
Psychologie. Das Wie und Warum spielte bei mir eine untergeordnete Rolle. Wenn
überhaupt. Tatsachen interessierten mich, nichts als Tatsachen. Und so vertrugen
Birke und ich uns auch wie saure Gurken mit Milch. Im Klartext: Meine
Bewunderung für sie hätte auf der Rückseite einer Briefmarke ohne weiteres Platz
gefunden. Sie nannte mich ein "typisches Einzelkind" und versuchte sich durch
endlose Reden den Platz in der Gesellschaft zu erobern, der ihr angeblich auch
zustand. Meinte sie jedenfalls. Birke war stolz darauf, "Schuld und Sühne" von
Fedor Dostojewski zu Ende gelesen zu haben. Überhaupt liebte sie vor allem
Bücher, die mit dem wirklichen Leben nichts zu tun hatten. Birkes Leben verlief
nicht zwischen Universität und Küche, sie war grün bis hinter beide Ohren und
tat alles, um Mutter Erde zu retten. Birke war ein echtes Problem - sie meinte,
was sie sagte. Sie klebte Plakate, verteilte Fuchsien und haute mächtig auf die
Pauke an klapprigen Informationsständen der Latzhosenbrigade: "In der Atmosphäre
gab es ursprünglich keinen Sauerstoff, und darum gab es keine Lebensformen. Es
konnte erst entstehen, als Pflanzen es geschaffen hatten. Und jetzt ist die
Menschheit dabei, mit Spraydosen Löcher in diesen Himmel zu machen." Und was
hatte das alles mit den Kölnern zu tun? Zwei Tage später nach so einem Auftritt
tat die Boulevardzeitung "Punkt!" ihr Bestes und druckte ein Foto ab, das den
Ökoschreihals beim Kauf von Deospray im "Kaufhof" zeigte. Die ehrgeizige Birke
war an dem Morgen gelb vor Zorn - bei der Kommunalwahl wurde sie im Stadtbezirk
3 von den Wählern verprügelt, und die Sekte fuhr schlappe 3,1 Prozent in die
Scheuer. Die Marktschreier des Untergangs nutzten wenigstens einmal die Gunst
der Stunde und entsorgten die Minus-Frau. Fortan setzte sie sich für uneheliche
Kinder von katholischen Priestern, Dieselabgase verursachen das Waldsterben,
rettet die Fischotter ein. Sie schien das zu brauchen.
( ... )
Es war das Telefon, das unter einem Berg von Blättern fiepte und mich vor den
Gefahren eines Wutausbruchs bewahrte.
( ... )
Es war Paul Kratzenstein, sein Sektenführer.
Kratzenstein war Anfang sechzig, sah aber wegen seine Halbglatze etwas älter
aus. Daß er in seinen überreifen C&A-Anzügen eher wie eine Kreuzung zwischen
einem asketischen Wanderprediger aus Hagen und einem vertrockneten
Trinkhallenpächter aus Castrop-Rauxel als wie ein Polizist wirkte, hatte für ihn
keine Bedeutung. Sein Selbstbewußtsein war nicht gerade knapp bemessen.
Kratzenstein, der sich viel darauf zugute tat, seine Mitarbeiter mit väterlicher
Hand zu führen, war sich auch darüber im klaren, daß er einer der fähigsten
Ermittler weit und breit war. Früher für Betrugsfälle, jetzt für Morde
zuständig. Es war falsch, auf das Image des liebenswürdigen und etwas
trotteligen Polizisten hereinzufallen, das er bewußt kultivierte. Hinter
vorgehaltener Hand hieß es von ihm, wer ihm im Verhör widerspreche, der könne
sich gleich vor eine Dampfwalze legen. Doch außerhalb des Bullenklosters am
Waidmarkt war der Ausbund an Spießigkeit so aufregend wie ein benutzter
Zahnstocher vom letzten Neujahrsempfang des Erzbistums. Ein Typ eben, der nie
vergißt, beim Verlassen eines Zimmers stets das Licht auszumachen. Obwohl sich
seine Kriegskasse monatlich mit gut 7000 Mark füllte, stand er weiter in der
Kantine Schlange. Und so was nannte sich Leitender Kriminaldirektor. Vor ein
paar Tagen hatte ich seine Frau kennengelernt. Stundenlang saß sie einfach nur
da und lächelte über die Witze ihres Mannes - mithin hatte sie nicht viel zu tun
gehabt.
( ... )
Ich verbarg meine Unsicherheit und Freude und mußte mein Gesicht zu einem
Grinsen verdrücken. "Was ist gebacken?" wollte ich mit gespielter
Gleichgültigkeit wissen. Mein Lächeln war jetzt nur noch ein schmaler Strich.
Ich gab mir alle Mühe, so auszusehen, als hätte ich ein Recht darauf, zu fragen.
Meinte ich auch zu haben. Schließlich hielt ich mich in der Hauptsache für einen
Erfolgsmenschen und nicht für einen Seelentröster!
"Eine Attentatsdrohung." Oliver war wieder seiner Selbst - absolut sicher. Nur
sein Versuch, Entschlossenheit zu zeigen, wurde ein wenig dadurch entschärft,
daß er seine Worte nicht mehr scharf artikulieren konnte.
"Ja, das kommt immer wieder vor." Ich tat so, als ginge es schlimmstenfalls um
falsches Parken am Rheinufer in Rodenkirchen. Dabei hatten die Drinks in meiner
Nähe merklich an Reiz verloren. "Wo?" erkundigte ich mich schließlich, als er
nicht reagierte. Im gleichen Moment landete der lange weiße Aschefinger meiner
Zigarette auf meinem Schoß: "Scheiße."
( ... )
Vor dem Haus Nummer 11, wo Oliver wohnte, stiegen wir in meinen alternden
"Polo". Er war fast zehn Jahre alt, an allen Ecken und Enden durchgerostet und
laut Tacho konnten wir bald das 200000-Kilometer-Jubelfest feiern.
( ... )
Als ich von der Bonner Straße nach links in die Marienburger Straße abbog,
rollte ich sacht einer kleinen, abgeschlossenen Welt aus längst vergangenen
Zeiten entgegen. Pferdekutschen und Gaslaternen gab es längst nicht mehr, aber
hier hatten die Kölner noch die Wahl zwischen einer Berghütte im Berner
Oberland, einer Rinderfarm in Argentinien oder Heimat-deine-Sterne. Marienburg
war das, was Kölner Immobilienmakler vermutlich als beste Adresse bezeichnet
hätten. Hier war der Besitz zu finden, den die gute Gesellschaft von Köln gerne
als ihr Zuhause bezeichnete. Marienburg hatten einst die Villen von Konzernchefs
und später des britischen Soldatensender BFBS geziert. Inzwischen glänzten an
gleicher Stelle Anwaltskanzleien, Konsulate und die Deutsche Krebshilfe. Seit
Jahrzehnten schon setzte sich hier die Creme der Domstadt ihre Denkmäler.
Diese Häuser lagen um diese Zeit im Dunkeln und konnten nicht genauer von mir
begutachtet werden. Aber ich wußte, hier gab es keine Legoland-Flachbauten wie
im Hahnwald, dem anderen mondänen Stadtteil Kölns, der aber im Dunstkreis von
Wesselinger Raffinerien lag. Darum war in Marienburg allein jedes Grundstücke
weit über eine Million Mark wert. Mochten manche Villen mit ihren scharlachroten
Dächern auch von außen fast rustikal wirken, von innen dürften sie jeden Luxus
bieten - Bibliotheken, Saunen, Swimming pools. Für einen Moment klebte mein
Blick an dem Schild "Evangelische Kirche", dann schaute ich mich um: Platanen
beschatteten tagsüber beide Straßenseiten und trugen ein melancholisches
Aussehen zur Schau, als bedeute allein ihre Anwesenheit ständige Trauer. Ich
ließ meinen Blick über die Straße wandern. Unter den Bäumen waren einige
Nobelschlitten geparkt - ein kombiartiger "Mercedes", ein tabakfarbener
"Jaguar", ein stratoblauer "Volvo". Autos, wie sie einige Leute fahren, die
allen zeigen wollen, daß sie es schon weit gebracht haben. Übertriebene
Bescheidenheit war eben nicht die Sache der Marienburger. Ihre Vorstellung,
etwas für die Gemeinschaft zu tun und gleichzeitig das Gewissen zu besänftigen,
bestand einzig und allein darin, möglichst viel Geld für wohltätige Zwecke bei
irgendwelchen furztrockenen Veranstaltungen zu scheffeln. Aber lieber
verbrachten sie ihre Freizeit auf endlos großen Golfplätzen. Die Leute waren
alle schön, doch das war selbstverständlich, daß niemand mehr darauf achtete ...
Ich sah mich weiter um. Fast alle Vorgärten voller Blumenrabatten oder
makelloser Rasenflächen, auf denen sich nicht das geringste Unkraut breitmachen
konnte, waren durch derbe Gitter geschützt. Manche Grundstücke zogen sich gut
und gerne hundert Meter hin, bis sie an ordentlich geschnittenen Hecken endeten.
Bestimmt patrouillierten hier überzüchtete Rottweiler. Einige Häuser waren von
weißen Mauern umgeben. So wie es hier aussah, hatte seit langem kein Einbrecher
auch nur eine müde Mark verdient. Wie hypnotisiert ließ ich den Anblick der
steilen Dächer auf mich wirken, die dahinter lagen und mich an Zitadellen
erinnerten. Ich registrierte die Pracht anderer Villen, die offen erkennbar war
und auch in der Nacht nicht verloren ging. Scheinwerfer waren eingeschaltet
worden und beleuchteten die Grundstücke. Videokameras zeugten außerdem von hohen
Einschaltquoten für die Fernsehsendung "Aktenzeichen XY". Auf einigen
Grundstücken war die Elektronik in hohen Bäumen versteckt, die wahrscheinlich
dem Alter der Hausbewohner in nichts nachstanden. Es war gar nicht so weit von
meiner eigenen Behausung entfernt, aber in anderer Hinsicht lagen ganze
Lichtjahre dazwischen.
"Wahnsinn, Wahnsinn", brummelte ich. Es war einer der Gegenden, in der mein
"Polo" so unauffällig wie ein Rabbi beim Morgengebet der Franziskaner wirkte.
Etwas verschämt steuerte ich meinen Wagen mit der rechten Hand, während mein
linker Arm auf dem Handgriff der Tür ruhte.
Letzte Regentropfen schlugen wie Schüsse um uns ein.
Oliver schien meinen Blicken gefolgt zu sein: "So schön können Millionen sein."
( ... )
Ich stoppte an der Einmündung Goethestraße und sagte: "Dein Outfit ist - wie
soll ich sagen? - richtig vorher."
Oliver öffnete die Tür, drehte seinen Oberkörper herum, schwang die Beine nach
draußen und fragte: "Vorher?"
"Ja, wie bei den vorher-und-nachher Bildern, nicht?" lachte ich und schüttelte
mich.
( ... )
Mit lässig stolperndem, stets etwas instabilen Gang entfernte ich mich vom Auto
und ließ es auf mich wirken: Die Häuser in der Robert-Heuser-Straße zeigten das
gepflegte Gesicht der Gründerzeit. Das Haus Nummer 12 strahlte sogar eine
morbide Gelassenheit aus. Es war eine Sandsteinvilla mit einem weißgeklinkerten
Eingang, der sich vor dem schwarzen Himmel abhob. Ich registrierte, daß über dem
Eingang, schlecht getarnt durch ein Vogelnest, ein Video-Glubschauge saß. Anders
als bei den Nachbarhäusern säumten hier Rosenbüsche die Front. Auf der Wiese vor
dem Haus standen hellblau gestrichene Autoreifen, in denen im Frühling bestimmt
Stiefmütterchen blühten. Mein Blick kehrte zu dem Haus zurück. In einem Zimmer
im Erdgeschoß brannte Licht, und ich konnte nur einen eleganten Kristalleuchter
sehen. Die anderen Fenster im Erdgeschoß hatten heruntergelassene Jalousien und
verwehrten die Beobachtung. Auch ein Badezimmer eine Etage drüber war
erleuchtet. Mattglasscheiben erlaubten mir aber keinen Einblick. In der zweiten
Etage fiel mir ein Bleiglasfenster auf. Über dieser Etage thronte ein hohes,
spitzes Schieferdach. Wenn die Hausnummer stimmte, mußte hier dieser Typ wohnen.
Nicht schlecht für einen Politfuzzi vom Rhein.
Plötzlich ging draußen eine Kutschenlampe an. Ich blieb stehen und trat unruhig
von einem Bein auf das andere.
Aus der hölzernen Tür mit den Messingbeschlägen kam Sekunden später ein Mann und
schaute sich um. Dann ging er ein Stück auf dem backsteingepflasterten Weg und
blieb an einer Hundeskulptur stehen. Oliver rannte auf ihn zu, vorbei an den
schlanken weißen Birken, die wie Wachposten über den Vorgarten verteilt waren.
Die beiden sprachen einen Moment. Leider konnte ich nicht hören, was sie sagten.
Aber ich sah Olivers Gesicht - es war eine leblose Maske. Dann ging Oliver zu
einem "Opel Vectra", der in der halbkreisförmigen Auffahrt abgestellt war, die
von Zwergrhododendron gesäumt war. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich. Er
wirkte viel entspannter. Der Mann warf ihm einen Schlüssel zu. Oliver öffnete
die Fahrertür.
Es war das letzte, was Oliver Roberts in seinem Leben tat.
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